Kann ein Mensch mehr als 100 Prozent Sehschärfe haben?
Mehr als 100 Prozent geht nicht – sollte man meinen. Daher blicken nicht nur Mathematiker*innen regelmäßig ungläubig auf das Ergebnis ihres Sehtests, der ihnen eine Sehschärfe von 125 Prozent und mehr bescheinigt. Wie ist das möglich? Stimmt etwas nicht mit unseren Augen, wenn wir mehr als 100 Prozent Sehschärfe haben? Können wir mehr sehen als andere? Durch Dinge hindurchsehen?
Nein, natürlich nicht. 100 Prozent Sehschärfe und mehr sind gar nicht so selten. Viele junge Menschen mit gesunden Augen knacken sogar die 200 Prozent-Marke und haben trotzdem keine außergewöhnlichen Fähigkeiten.
Der Grund für Sehschärfewerte von 100 Prozent und mehr ist eine Mischung aus Bequemlichkeit und Mathematik. Eigentlich wird die Sehschärfe, die medizinisch auch als „Visus“ bezeichnet wird, mit einer Dezimalzahl angegeben. Diese Zahl bewegt sich normalerweise zwischen 0,1 und 2,0. Eine Sehschärfe von 1,0 hat ist dabei eine Sehleistung, die der „mittlere Mensch“ erreicht. Kleine Kinder unter 5 und Erwachsene über 70 haben oft eine Sehschärfe unter 1,0. Junge Erwachsenen von 18 bis 30 Jahren schaffen häufig eine Sehschärfe von 1,6 bis 2,0.
Weil die Dezimalzahl 1,0 aber in der Kommunikation mit Patient*innen und Kund*innen nur schwer zu vermitteln ist, haben Augenärzt*innen und Optiker*innen einfach Prozentwerte daraus gemacht. Aus dem Visus 1,0 wurde eine Sehkraft von 100 Prozent. Sehbehinderte Menschen mit einem Visus von 0,05 hat in dieser Ausdrucksweise also eine Sehschärfe von 5 Prozent. Bei einem jungen Menschen mit einem Visus von 2,0 ergibt sich nach dieser Logik dann eine Sehkraft von 200 Prozent.
Was sagen 100 Prozent Sehschärfe eigentlich aus?
Vereinfacht gesprochen ist die Sehschärfe, die manchmal auch als Sehkraft oder Sehleistung bezeichnet wird, ein Maß für das Auflösungsvermögen unserer Augen. Sie ist vergleichbar mit der Pixelzahl einer Kamera. Je höher die Auflösung, desto schärfer das Bild. Die Berechnung der Auflösung ist reine Mathematik und hat mit Winkelminuten zu tun – nichts, womit sich Laien beschäftigen müssen. Für sie ist es spannender zu wissen, was 100 Prozent Sehkraft für ihr alltägliches Leben bedeuten.
Brauche ich 100 Prozent Sehschärfe für den Führerschein?
Einfache Antwort: Nein. Voraussetzung für die Zulassung zur Prüfung für den PKW- oder Motorradführerschein ist ein Führerscheinsehtest. Diesen Sehtest besteht, wer mit beiden Augen jeweils eine Sehschärfe von mindestens 70 Prozent (oder: Visus 0,7) erreicht.
Aber selbst wer den Sehtest nicht besteht, hat Grund zum Hoffen: In diesem Fall werden in einem augenärztlichen Gutachten die Sehschärfe, das Gesichtsfeld und die Augenbeweglichkeit geprüft. Bei Personen, die mit beiden Augen sehen können, muss vom Augenarzt nur eine Sehschärfe von mindestens 50 Prozent (Visus 0,5) mit dem besseren Auge (oder mit beiden Augen) bezeugt werden, sowie auf dem schlechteren Auge mindestens 20 Prozent (Visus 0,2). Diese Regelung gewährleistet, dass nur wenigen Bundesbürgern das Autofahren verboten werden muss. Dies nimmt jedoch Wenigen die Angst vor dem Führerscheinsehtest.
Wesentlich strengere Vorschriften gelten für LKW-Fahrer*innen und Menschen, die Personen befördern, wie Bus- und Taxifahrer*innen. Verursachen diese einen Unfall, geht von ihnen eine wesentlich höhere Gefährdung von Menschenleben aus.
Laut Verordnung müssen sie deshalb mit dem besseren Auge oder beidäugig 100 Prozent Sehschärfe (Visus 1,0) nachweisen und mit dem schlechteren Auge 80 Prozent (Visus 0,8). Zusätzlich haben die Werte im Farbensehen, Gesichtsfeld und dem dreidimensionalen Sehen im normalen Bereich zu liegen. Aber auch hier gibt es eine Ausnahme: Werden diese Forderungen nicht erfüllt, kann ein Augenarzt nach einer umfangreichen Untersuchung das LKW-Fahren eventuell trotzdem erlauben.
Warum wird mir trotz 100 Prozent Sehschärfe eine Brille empfohlen?
Bei bestimmten Tätigkeiten ist eine Brille sinnvoll, auch wenn ohne Sehhilfe bereits 100 Prozent Sehkraft erreicht werden. So kann eine Bildschirmarbeitsplatzbrille, die das Auflösungsvermögen steigert die Effektivität der Arbeit wesentlich steigern. Beim Autofahren erhöht eine geringfügige Steigerung des Sehschärfe auf 125 Prozent die Sicherheit im Straßenverkehr.
Wichtig ist eine Brille bei vielen jungen Erwachsenen mit einer Weitsichtigkeit. Sie erreichen ohne Brille zwar eine gute oder sehr gute Sehschärfe, aber nur weil sie ihre Augenmuskeln ständig überanstrengen. Eine Brille steigert bei diesen Personen nicht die Sehschärfe aber das Wohlbefinden. Mit Brille fühlt man sich dann weniger gestresst und viel entspannter. Oder: Warum komme ich trotz Brille nicht auf 100 Prozent Sehschärfe?
Bei einer eingeschränkten Sehschärfe unterscheidet man zwischen korrigierbaren und nicht korrigierbaren Ursachen. Korrigierbare Ursachen, wie eine einfache Kurzsichtigkeit oder Weitsichtigkeit, lassen sich mit Brille und Kontaktlinsen ausgleichen, sodass Sie mit der Sehhilfe wieder bei 100 Prozent Sehschärfe oder mehr landen. Es gibt aber auch krankheitsbedingte Ursachen, die dazu führen, dass Sie weit weniger als 100 Prozent Sehkraft haben. Das kann eine Hornhautverkrümmung oder eine Trübung der Hornhaut sein, eine altersbedingte Makuladegeneration, oder auch eine Beeinträchtigung des Sehnervs. Kommen korrigierbare und nicht korrigierbare Ursachen zusammen, erreichen Sie auch mit der besten Brille keine 100 Prozent Sehkraft.
Je nach Art der Beeinträchtigung kann jedoch eine Kombination verschiedener Sehhilfen eine Verbesserung bringen. Bei Menschen mit Hornhautverletzungen oder einer irregulären Hornhautverkrümmung ist es möglich, mit speziellen (medizinischen) Kontaktlinsen, die zusätzlich zur Brille getragen werden, die Sehkraft zu steigern – vielleicht nicht auf 100 % Sehkraft, aber immerhin so, dass sich die Lebensqualität der Betroffenen merklich verbessert.
Ab wann ist die Sehkraft zu gering?
In Deutschland gilt als sehbehindert, wer weniger als 30 % Sehkraft hat. Menschen, die diesen Wert unterschreiten, haben oft die Möglichkeit, Zuzahlungen von der Krankenkasse für Brille und Kontaktlinsen zu bekommen.
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