Was war das Kassengestell?

Was war das Kassengestell?
Was ist eine Kassengestell Brille? | Quelle: © RyanJLane / istockphoto.com

Klobig, überdimensioniert, schwarz – das waren die eindeutigen Merkmale des Kassengestells. Denn lange bevor die Brille zum modischen Accessoire und Ausdruck der Persönlichkeit avancierte, war sie einfach nur eines: Eine unattraktive, kostengünstige Sehhilfe, die von der Krankenkasse bezahlt wurde. Vielfalt, Farben, Design? Sprechen wir besser nicht davon.

Die Geburt der Gesetzlichen

Als Otto von Bismarck am 15. Juni 1883 in Deutschland die gesetzliche Krankenversicherung für alle Industriearbeiter und Beschäftigte in Handwerks- und Gewerbebetrieben einführte – die erste Sozialversicherungspflicht in Europa – war jeder Arbeiter und Handwerker im Deutschen Kaiserreich pflichtkrankenversichert. Freie ärztliche Behandlung, Arznei, sowie Brillen, „Bruchbänder und ähnliche Heilmittel“ wurden fortan von der gesetzlichen Krankenkasse bezahlt: Die kostengünstigen Kassengestelle waren eine logische Folge.

Unattraktiv, aber notwendig. Die Last des Kassengestells

Brillenträger*innen hatten schwer an ihnen zu tragen. Die Modelle waren hochfunktional – mehr auch nicht. Große Gläser in riesenhaften, stabilen Rahmen, die lange – und vor allem viel (aus) -halten.

So waren Personen mit Brille als Außenseiter stigmatisiert: als lebensuntüchtige Streber, verkrampfte Musterschüler*innen oder unsichere Sekretärinnen. In der Literatur wie auch im Film war die Rolle des unsportlichen, aber schlauen Sonderlings oder des „Fräuleins vom Amt“ sehr lange mit dem Attribut Brille ausgestattet. Diesen Stellenwert unterstreicht auch eine Umfrage aus dem Jahr 1959: Damals urteilte noch jede*r Zweite:  ‚Zu einem Maurer passt keine Brille‘ oder ‚bei einer Kellnerin wirkt eine Brille etwas komisch.‘

„Bitte schön, hier hinten unsere Kassengestelle …“

Wer kurz- oder weitsichtig und finanziell auf ein Kassengestell angewiesen war, fand in den Regalen der Optiker wenige Modelle in uniformem Aussehen: Klobig, funktional, langlebig. Sechs für Erwachsene, zwei für Kinder.

Das Image der Kassenbrille wurde zum Image seiner Träger*innen. Wer sich in den 1950er Jahren mehr als kostenfreie Kassengestelle mit ihren dicken Rahmen leisten konnte, gönnte sich hochpreisige, extravagante Modelle: in spitzer Schmetterlingsform oder mit weichen Rundungen und in verschiedenen Farbtönen. Ich zahle, also bin ich. Und was ich verdiene, trage ich auf dem Nasenrücken. Diese Art Klassenkampf hielt sich bis in die 1980er Jahre. Dann wuchs die Auswahl an günstigen Brillen und damit auch etwas der Mut zur Vielfalt auf den Nasenrücken. Seit 2004 gibt es keine Zuzahlung mehr von den Krankenkassen. Ist das nun das Ende des Kassengestells? Aber nein!

Jahrtausendwende: Retro wird zum Trend

Mit dem Wegfall der Krankenkassen-Bezuschussungen von Brillen im Jahr 2004 wurden die Menschen noch kritischer. Wer Geld für die Fassung zahlt, möchte damit auch gut aussehen. In den darauffolgenden Jahren mauserten sich Korrektionsbrillen immer stärker Richtung Trendaccessoire. Wie war dieser Wandel in so kurzer Zeit möglich? Ausschlaggebend war vielleicht der Sonnenbrillentrend der 2005er und 06er Jahre, der opulente Fassungen im XXL-Look á la Audrey Hepburn in den Himmel hypte: plakativ, opulent geschmückt – ganz wie die Retrofassungen der 60er Jahre. Seitdem ging nichts mehr ohne Sonnenbrille, die das It-Accessoire des Sommers wurde. Das blieb auch im nächsten und übernächsten Jahr so – und irgendwann wollten viele auch im Winter nicht mehr auf die Brillen verzichten.

Die Fans der Retrobrillen setzten ein klares Statement zu Stil und Persönlichkeit.

Jetzt waren die Brillenträger*innen klar im Vorteil: Der ehemalige Sonnenbrillen-Trend nahm Einfluss auf die Kollektionen der Korrektionsfassungen: Die Gläser wuchsen. Die Fassungen wurden zunehmend massiver, dunkler und kantiger. Der Durchbruch kam, als die Community der Kreativen die ehemaligen „Nerdbrillen“ zu ihrem Markenzeichen erkor: Erst die schwarzen viereckigen Wayfarer-Modelle, dann den runden Panto-Look á la Woody Allen, später auch die in den 70ern, 80ern als „Kassengestelle“ verpönten Fassungen, welche an Erich Honecker oder Helmut Kohl erinnerten. Frauen definierten sich nun selbstbewusst über die zickigen Cat-Eye- oder Schmetterlingsbrillen. Step by Step avancierte die einstige Sehhilfe zum modischen Accessoire.

Vorbei die Zeiten der „Brillenschlange“

Inzwischen haben Viele erkannt, dass die angebotene Vielfalt an Brillenfassungen und Gläsern unterschiedlicher Preislagen, Materialien, Formen und Farben auch immense Möglichkeiten des ‚Persönlichkeitsstylings‘ bietet. So sind heute mehr als 80 Prozent der Deutschen davon überzeugt, dass es ‚für Jede*n die zu ihm passende Brille gibt‘. 44 Prozent der Brillenträger*innen und auch 33 Prozent der Erwachsenen ohne Brille sind der Ansicht, dass eine Brille ‚die eigene Persönlichkeit unterstreicht‘. Fast genauso viele Menschen meinen, dass: ‚Eine Brille viele Menschen interessanter macht‘. Und das ist gut so. Denn kein anderes modisches Accessoire hat so viel Einfluss auf unser Aussehen wie eine Brille.

Siehe dazu auch: die neuesten Brillentrends 2024.

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